Mit seinem Film "Die letzte Versuchung Christi" (1988) hat Martin Scorsese kirchliche und weltliche Proteste ausgelöst, er gehört zu den Großen des heutigen amerikanischen Kinos. "Wunderbare Visionen auf dem Weg zur Hölle" heißt die Dokumentation über Scorsese, die Bodo Fründt und Rolf Thissen drehen. Als Protest gegen die mangelhafte Farbkonservierung der amerikanischen Filmindustrie dreht er 1980 das Boxerporträt "Wie ein wilder Stier" in Schwarzweiß und macht in Sonderveranstaltungen während der Berliner Filmfestspiele und auf anderen Foren anhand von alten Filmszenen darauf aufmerksam, dass viele berühmte Farbfilme aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren hoffnungslos ausgeblichen sind. "Wie ein wilder Stier" erzählt von einem naiven Mittelgewichtsmeister aus der Bronx, der sich von skrupellosen Geschäftemachern verschaukeln lässt und am Ende brutal erledigt wird.
Scorsese drehte zuvor bereits "Boxcar Bertha - Die Faust der Rebellen" (1972): Sträflinge und Eisenbahnarbeiter führen einen aussichtslosen Kampf gegen Polizisten und Privatmiliz von Unternehmern im Süden der USA in den Dreißigerjahren. Dagegen gerät in "Hexenkessel" (1973) ein Junge, der ein epileptisches Mädchen liebt und deren behinderten Vetter beschützt, aus dem Takt und fällt bei seinem reichen Onkel in Ungnade. Und in "Taxi Driver" (1976) dreht ein enttäuschter Vietnam-Kämpfer, Taxifahrer in New York, wegen des Schmutzes, der Gewalt und des assozialen Verhaltens auf den Straßen der Stadt durch. Er läuft Amok und wird gerade durch eine grausame Bluttat als Held gefeiert.
"Du sollst keine Lämmer mehr töten"
Martin Scorseses Helden sind kleine Leute, die sich ohnmächtig gegen Unrecht und Gewalt auflehnen. Meist erkennen sie zu spät, dass sie keine Chance haben, lassen sich aber nicht beirren. In den Figuren liegt auch etwas von religiös missionarischen Fanatismus. Das passt zu dem, was Scorsese selbst über sich sagt: Er wollte einmal Priester werden, aber man habe ihn rausgeschmissen; etwas Religiöses wäre bei ihm noch vorhanden, "eine Art ritueller Erfahrung in der Messe. Christus kommt herab und sagt: Du sollst keine Lämmer mehr töten". Metaphysische Grundtöne sind von "Taxi Driver" bis zur "Letzten Versuchung Christi" erkennbar - doch solche Bekenntnisse sind auch ein Stück Traumfabrik, selbst wenn diese kompromissarmen Filme über die kaputten Kinder Amerikas fern von Hollywood-Klischees liegen. Immer geht es hier um Zwiespalt und Skepsis eines Landes und seiner Bewohner, um Hoffnung auf eine neue Generation. "Scorseses Figuren mögen allesamt Gangster sein, sie bleiben doch kleine, miese, erfolglose Existenzen" schrieb Klaus Eder in "medium" und folgerte, dass ihnen Selbstbewusstsein und Identität fehle.
Nach dem Misserfolg des Insider-Kultfilms "Hexenkessel" holt Scorsese die Goldene Palme in Cannes für "Taxi Driver", einem aufwendigen, routiniert und attraktiven, zugleich realistischen Film. Wenn man Martin Scorseses Filmhelden kennt, kennt man den vitalen Italo-Amerikaner: aufgewachsen als Sohn sizilianischer Einwanderer in New Yorks Lower Eastside, eine armselige Kindheit im schäbigen Ausländerviertel Little Italy. Was danach kommt, ist Mischung aus Dichtung und Wahrheit. All die jungen Aufsteiger aus den Slums von Chicago, New York oder New Orleans, die ihren Weg nach oben gefunden haben, sind von ihren Public-Relation-Managern mit sensationellen Jugenderlebnissen ausstaffiert: frühe Kriminalität, Rauschgift, Alkohol, brave, arme Eltern, große Enttäuschung, unerwartetes Glück; mit eigener Kraft den langsamen oder den steilen Weg nach oben bis zum Topstar. Martin Scorsese hat an der New Yorker Filmhochschule studiert und dann als Drehbuchautor und Cutter - etwa bei Michael Wadleigh in "Woodstock" begonnen.
Scorseses erster Langfilm
1963 lieferte er mit "What's A Nice Girl Like You Doing In A Place Like This?" sein neunminütiges Debüt als Regisseur und Autor. Ein Jahr später folgt "It's Not Just Murray", diesmal ein 15-minütiger Kurzfilm. Nach einem weiteren Kurzfilm ("The Big Shave", 1967) folgt 1969 mit "Wer klopft da an meine Tür?" Scorseses erster Langfilm. Scorsese gehört zum Freundeskreis von Francis Ford Coppola, George Lucas und Steven Spielberg. Sie sind unterschiedliche Wege gegangen: Coppola ist durch die aufwendige Kino-Trilogie "Der Pate", Spielberg durch den "Der weiße Hai" ins große Geschäft geraten - freilich auch über klaftertiefe Abgründe hinweg. Die anderen - Einzelgänger wie John Cassavetes oder Monte Hellman - arbeiteten still vor sich hin, oder machten immer wieder mit ihren provokativen Arbeiten Furore - wie Martin Scorsese.
Roger Corman, Förderer vieler talentierter US-Filmer - wie Peter Bogdanovich und John Carpenter - hat auch Scorseses frühen Film "Die Faust der Rebellen" produziert. Die Geschichte aus den Depressionsjahren überzeugt: der äußerst brutale Kampf einer Eisenbahnermiliz gegen gewerkschaftlich engagierte Arbeiter. Eine junge Frau erlebt, wie ihr Vater bei der Feldarbeit verunglückt, zwei Eisenbahnbanditen retten Bertha vor der Brutalität des schuldigen Arbeitgebers, den das Mädchen attackiert. Der Gewerkschaftler Bill hetzt die Arbeiter gegen die Bosse auf, doch die Polizei schlägt ihn zusammen, er landet im Gefängnis, aus dem ihn Bertha befreit. Jetzt sind sie vogelfrei, von Polizei und Eisenbahnarmee gejagt; letztere bringt sie zur Strecke: Vor den Augen von Bertha wird Bill qualvoll hingerichtet. Man hat den Film zum Torso verstümmelt, erst Jahre später gelingt es Scorsese, die Urfassung zu rekonstruieren.
Die Lebensbeichte eines Gangsters
1989 entsteht nach "Die Farbe des Geldes" (1986) einer der großen Scorsese-Filme: "GoodFellas - Drei Jahrzehnte in der Mafia". Der Film ist die Lebensbeichte eines Gangsters. Henry Hill war ein kleines Licht, und dennoch hält gerade ihn die amerikanische Justiz für wert, sich ausführlich mit seiner Person zu befassen. Ausschlaggebend ist wohl, dass Henry über eine Fülle von Informationen verfügt. Er hat im Verlauf einer 30-jährigen Karriere die großen Gangster seiner Zeit aus unmittelbarer Nähe kennengelernt, und weiß um ihre sorgsam gehüteten Geheimnisse.
Und damit schließlich kommt er vor Gericht - trotz umfangreichen Strafregisters - ziemlich gut weg: Nachdem er 1974 wegen eines geringfügigen Vergehens verhaftet wurde, war für ihn die Hoffnung auf eine Zukunft vorbei. Im Mai 1980 beschließt Henry Hill, eine umfangreiche Aussage zu machen und sich damit freizukaufen. Doch dieses Geständnis, das der amerikanischen Mafia einen Tiefschlag versetzt, macht ihn zum toten Mann. Das Kronzeugenprogramm der US-Bundesregierung schützt ihn, obwohl er seine Freunde von damals überlebt hat. Trotzdem gibt es für ihn keine Ruhe mehr.
Scorseses Mafia-Geschichte ist da ganz anders
Francis Ford Coppola hat 1971 und 1974 mit seinen Filmen "Der Pate 1 + Der Pate II" die Geschichte der Mafia als große Oper inszeniert, und diese Art der Darstellung entsprach sicher auch dem Pathos der großen internationalen Gangsterfiguren von Al Capone bis Don Vito Corleone. Martin Scorseses Mafia-Geschichte ist da ganz anders: Eine Atmosphäre - die Gangsterszene im New York der Fünfzigerjahre - entsteht vor der Kamera. Sein Held ist ein Elfjähriger aus dem New Yorker Eastside, der wie all die anderen davon träumt, einmal was Tolles zu werden - "Arzt, Baseball-Spieler, Feuerwehrmann oder Filmstar" sagt Henry Hill später einmal. Früh erkennt Henry, dass es die auf der anderen Seite des Gesetzes leichter haben. Der 25-jährige Jimmy Burke, der mit seinem Bündel Hundert-Dollar-Noten vom Kellner bis zum Cop alle zu Freunden macht, wird sein Vorbild. Für Jimmy nimmt er erst kleine, dann immer größere Aufgaben an. Weil er clever ist, wird sein Taschengeld immer üppiger, bald ist er Jimmys rechte Hand.
Martin Scorsese erzählt seine Gangstergeschichte aus der Faszination für Schauplätze und Menschen, Straßen, Kneipen, Hinterhöfe, enge Räume. Kameramann Michael Ballhaus zwängt sich mit der Kamera durch kleine Gassen, verfolgt die Protagonisten durch Labyrinthe von Gängen. Immer ist Bewegung in den Bildern, ganz dicht rückt die Kamera ans Geschehen. Nicht große opulente Bilder wie bei Coppola oder in Leones "Es war einmal in Amerika", sondern Menschengruppen. Jimmy macht vor allem mit kleinen Leuten Geschäfte - mit Kellnern, LKW-Fahrern, mit Subalternen, und Henry eifert ihm nach.
Aus der Erinnerung betrachtet bleiben von Scorseses Film immer Bilder der Enge, kaum Totalen. Er hält sich sehr dicht an die Personen, und man vergisst sie nicht: Johnny Boy, Tony und Charly, die kleinen Gauner aus "Hexenkessel", den moralischen "Taxi Driver" Travis Bickle, die großen und kleinen Mafiosi aus "Good Fellas": Gesten, Gesichter, Bewegungen von Händen, Fingern mit Würfeln, Karten, Gläsern oder Revolvern. Doch trotz der Nähe betreibt Scorsese keine Kumpanei mit den Personen: Sie sind zwielichtig, unaufrichtig, eben Verbrecher.
Eine Menge Leichen
Gewalt ist im neuen amerikanischen Film ständig im Bild, sie wird benutzt als Effekt, als Ausdruck der Wahrheit, als Folie für die Angst. Mit ihr wird gespielt, sie ist oft das Wesentliche für Geschichten und Typen, viele Kinostories würde es ohne sie nicht geben. In Scorseses Filmen gibt es eine Menge Leichen - im Kofferraum, im Müllwagen, im Schlachthaus, doch Gewalt ist nicht Oberfläche, dient hier nie der Erzeugung von Spannung. Gegner, Spitzel, Freunde in den eigenen Reihen werden reihenweise umgebracht, doch nie hat man das Gefühl, es sei Selbstzweck.
Von Scorseses Anfängen bis zu seinem letzten Film hat er sich etwas Wesentliches bewahrt: Kinorealismus nie als Abbild der Wirklichkeit verstanden, die Kinobilder stets als etwas Vorgeführtes, Gemachtes zu zeigen. Die Darsteller sind nicht der Taxifahrer, Jesus oder Henry Hill: sie spielen das nur, führen vor. Wenn ein Film dies deutlich macht - und Scorseses Filme sind hierin sehr genau -, dann wird Gewalt nie zum Selbstzweck, überträgt sich die Brutalität einer Geschichte nicht auf den Zuschauer. Zu seiner Verbindung zur Kirche, seiner Religiosität passt der Film über Tibet und den Dalai Lama. "Kundun" (1997) ist ein Film über den tibetanischen Buddhismus. Tibet und der Buddhismus hat heute im Kino Hochkonjunktur, vielleicht deshalb, weil das derzeitige Oberhaupt eine so liebenswerte Person ist. Es ist ein seltsamer Film über den tibetanischen Buddhismus. "Kundun" ist die Anrede des Dalai Lama und der ruhige, poetisch sehr schweigsame Film ist - fast meditativ - eine Verbeugung vor dem Fremden, Eindrucksvollen.
Weitere Filme von Martin Scorsese: "Italianamerican" (TV-Doku, 1974), "Alice lebt hier nicht mehr" (1974), "New York, New York" (1977), "The Last Waltz" (Musik-Doku, 1978), "American Boy: A Profile Of Steven Prince" (Doku, 1978), "The King of Comedy" (1983), "Unglaubliche Geschichten" (TV, 1984), "Die Zeit nach Mitternacht" (1985), "New Yorker Geschichten" (1989), "Kap der Angst" (1991), "Zeit der Unschuld" (1993), "Eine persönliche Reise durch die Geschichte des Films mit Martin Scorsese" (3-teilge TV-Doku), "Casino" (beide 1995), "Bringing Out The Dead - Nächte der Erinnerung" (1999), "Meine italienische Reise" (2001), "Feel Like Going Home (The Blues 3)" (2003) "Shine a Light" (2008), "Shutter Island" (2010), "Hugo Cabret", "George Harrison - Living in the Material World" (beide 2011), "The Wolf of Wall Street" (2013).
Neben seiner Funktion als Produzent diverser Filme ("The Grifters", "Sein Name ist Mad Dog", "Naked in New York", "Clockers") war Scorsese auch in vielen Filmen als Darsteller zu sehen. Etwa in "Cannonball" (1976), "Anna Pavlova" (1984), "Um Mitternacht" (1986), "Akira Kurosawas Träume" (1990), "Schuldig bei Verdacht" (1991), "Quiz Show" (1994), "Wild Bill" (1995) und in "Verführt und verlassen" (2013).
2000 ehrte er Kubrick in Jan Harlans Dokumentation "Stanley Kubrick - Ein Leben für den Film". Und 2003 erhält er für seinen Historienepos "Gangs of New York" endlich seinen ersten Golden Globe als bester Regisseur, während er für sein Biopic "Aviator" zwar für den Oscar nominiert war, der Film aber nur als bestes Drama mit dem Golden Globe ausgezeichnet wurde. Und auch bei den Oscarverleihungen 2005 musste sich Scorsese geschlagen geben: Clint Eastwood schnappte ihm mit seiner Regiearbeit "Million Dollar Baby" die Trophäen als bester Film und für die beste Regie vor der Nase weg. Oscars gab's hingegen für Cate Blanchett als beste Nebendarstellerin, für die beste Kamera, den besten Schnitt, beste Ausstattung und beste Konstüm. Wenig tröstlich für Scorsese, der noch nie als Regisseur ausgezeichnet worden ist. Den Golden Globe als bester Regisseur erhielt Scorses 2007 zum zweiten Mal für seine überragende Arbeit "Departed - Unter Feinden" (2006), der ihm 2007 zum allerersten Mal den Oscar als bester Regisseur bescherte. Darüber hinaus erhielt der Thriller Oscars für den besten Film, das beste adaptierte Drehbuch und besten Schnitt.