Sebastian Fitzek im Interview

"Ich mag es, wenn das Grauen langsam Einzug hält"

Eine Balkonkabine auf einem Kreuzfahrtschiff, im Rücken der Hafen von Barcelona, vor uns das Mittelmeer: Einen besseren Ort, um mit Bestseller-Autor Sebastian Fitzek über seinen Thriller "Passagier 23" zu sprechen, gibt es kaum. Schließlich spielt das Buch auf einem dieser Ozeanriesen.

Während Fitzek erzählt, wie er auf die durchaus ungewöhnliche Geschichte für sein Buch kam, dreht RTL an Bord des Schiffes die Adaption des Romans (läuft am Donnerstag, 13. Dezember, 20.15 Uhr). Noch ist das Meer ruhig, und die Reiseübelkeit, unter der Fitzek leidet, macht sich nicht bemerkbar.

prisma: Herr Fitzek, haben Sie Ihr Pflaster gegen Reiseübelkeit schon angebracht?

Sebastian Fitzek: Ich hab's dabei (lacht). Außerdem Kaugummis gegen Reiseübelkeit und Ingwertropfen. Nur die Vomex-Ampullen zum Spritzen habe ich nicht mitgebracht, die hat sicher der Schiffsarzt.

prisma: Man merkt schon: Da spricht der Kreuzfahrt-Experte!

Fitzek: Der Reiseübelkeits-Experte! Als junger Mann habe ich wahnsinnig darunter gelitten. Im Auto, im Flugzeug, auf Fähren. Ich habe mir sagen lassen, dass das im Alter besser wird.

prisma: Wie oft waren Sie schon auf Kreuzfahrt?

Fitzek: Das ist schon meine siebte oder achte Kreuzfahrt. Ich bin auch schon mehrmals über den Atlantik gefahren, von Southampton nach New York und umgekehrt. Ganz klassisch. Ich mag Seetage. Jeden Tag an einem Ort zu sein, ist zwar sehr schön, aber auch mit ziemlichem Freizeitstress verbunden. Das, was das typische Kreuzfahrtpublikum mag, ist nicht so meins.

prisma: Aber interessant ist es für Sie als Autor sicher schon, dieses Treiben an Bord eines Schiffes zu beobachten.

Fitzek: Total. Als Autor hat man immer ein Interesse an in sich geschlossenen Welten, in denen unterschiedlichste Menschen aufeinandertreffen. Und so ein Kreuzfahrtschiff ist ja eine schwimmende Kleinstadt. Da gibt es die Welt der Passagiere und die der Besatzung. Es gibt Crewmitglieder, die unter Deck arbeiten und nie Passagierkontakt haben, und es gibt die Crewmitglieder oben, die Kellner und Barkeeper. Hier stoßen viele Nationen und unterschiedliche Charaktere auf engstem Raum zusammen. Auf so einem Schiff ist es normal, dass man keinen einzigen Tag freihat. Die Menschen arbeiten monatelang jeden Tag durch. Auch auf deutschen Schiffen. Das ist eine extrem hohe Belastung. Es ist eine schöne Welt, die aber auch extremes Stresspotenzial besitzt. Und das ist spannend für einen Thriller-Autor.

prisma: Ist es besonders reizvoll, diese vermeintlich schöne Glitzerwelt der Kreuzfahrtschiffe zu durchbrechen?

Fitzek: Ich mag es, wenn das Grauen langsam Einzug hält. Das gefällt mir besser als eine Geschichte, die gleich im Schlachthaus beginnt. Fast jeder glaubt ja, diese Welt der Kreuzfahrtschiffe zu kennen, kennt sie aber nicht wirklich. Das ist wie mit dem Weißen Haus oder dem Vatikan. Selbst die erfahrensten Kreuzfahrthasen haben keinen Zugang zu den Bereichen unter Deck. Davon gibt es auch keine Pläne im Internet, schon aus Sicherheitsgründen nicht.

prisma: Und Sie konnten dort recherchieren?

Fitzek: Das war extrem schwer. Auf privaten Kreuzfahrten konnte ich zunächst ein paar Kontakte knüpfen und bekam Einblicke in das Leben der Crew. Da habe ich zum ersten Mal erfahren, dass die Gänge unter Deck so lang sind, dass sie Straßennamen haben, damit man weiß, wo man gerade ist. Das fertige Buch habe ich dann einem Kapitän zum Gegenlesen gegeben, der geschaut hat, ob alles so stimmt.

prisma: Wie sind Sie auf die Schattenseiten der Kreuzfahrtindustrie gestoßen?

Fitzek: Ich habe mal einen Artikel in der Zeitschrift "Park Avenue" gelesen, über Passagiere, die auf Kreuzfahrtschiffen verschwinden. Das hielt ich zunächst für Seemannsgarn, habe dann aber festgestellt, dass es sogar ganze Anwaltskanzleien gibt, die sich darauf spezialisiert haben, die Hinterbliebenen zu vertreten. Es gibt keine Polizei an Bord. Das ist der Nährboden für Anarchie. Die Menschen sind hier, um Spaß zu haben. Aber wenn dann doch etwas passiert, haben wir hier die besten Voraussetzungen für das perfekte Verbrechen.

prisma: Können Sie mit diesem Wissen Kreuzfahrten überhaupt noch genießen?

Fitzek: Ich habe einen ganz guten Verdrängungsmechanismus. Und vor allem weiß ich, warum wir solche Geschichten von unerklärlichen, grausamen Vorfällen gerne hören: Wir wissen nämlich, dass das die Ausnahme ist. 23 verschwundene Personen weltweit auf Kreuzfahrtschiffen – da müsste man viel eher Angst haben, in ein Auto zu steigen. Es liegt in unseren Genen, dass wir uns mit der Ausnahme beschäftigen. Das sichert uns das Überleben, so meidet man die Gefahr.

prisma: Dennoch lieben wir das Spiel mit der Gefahr ...

Fitzek: Natürlich ist das schizophren. Jeder von uns weiß, wie schädlich Plastik für die Natur ist, dennoch nutzen wir es täglich. Als ich das erste Mal von Southampton nach New York gefahren bin, gab es eine Ansage: "Meine Damen und Herren, wir finden uns nun dort, wo die Titanic untergegangen ist." Das ist ja 'ne interessante Information, habe ich mir da gedacht (lacht). Und die Leute sind nach oben gelaufen und haben das Wasser fotografiert!

prisma: In "Passagier 23" geht es um Selbstmord unter Jugendlichen. Spüren Sie da eine besondere Verantwortung, mit einem solchen Thema sensibel umzugehen?

Fitzek: Ja, auf jeden Fall. Ich habe viele jugendliche Leser. Bei einer Lesung waren vor einiger Weile sogar zwei Zwölfjährige, die alle meine Bücher dabei hatten. Deswegen bin ich für eine Altersbeschränkung für Bücher, ähnlich wie die FSK für Filme.

prisma: Was hätte "Passagier 23" für eine Altersfreigabe?

Fitzek: Keine Ahnung. Aber wenn ich mir den "Tatort" anschaue oder Serien wie "CSI" – so brutal sind meine Bücher lange nicht. Für einen Zwölfjährigen muss es klar sein, dass er zwischen Gut und Böse unterscheiden kann. Das ist in einem Psychothriller natürlich nicht so einfach, der lebt ja davon, dass man nicht alles weiß. Gerade beim Thema Suizid ist das wichtig. Mir ist bewusst, dass sich manche Leser mit suizidalen Tendenzen herumschlagen. Meine Bücher, und das bekomme ich durch Leserbriefe oft gespiegelt, werden als Realitätsflucht genutzt. Ich würde nie eine Anleitung zum Suizid mitgeben.

prisma: Dass ein Kreuzfahrtschiff der perfekte Ort für einen Selbstmord ist, dürfte allerdings für manchen neu sein ...

Fitzek: Zumindest, so lange man keine suizidalen Tendenzen hat. Aber in Selbstmordforen im Internet – die übrigens auf eine erschreckende Art und Weise interessant sind – ist das eine ganz gängige Methode. Obwohl es keine schöne Todesart ist. In den Internetforen suchen die Menschen immer nach schmerzfreien Methoden, weil es zum Glück eine Angst vor Schmerzen gibt. Vom Kreuzfahrtschiff zu springen, ist nicht schmerzfrei. Aber es ist die perfekte Methode, um den Hinterbliebenen das Leid zu ersparen, weil die Leiche nicht gefunden wird.

prisma: In "Passagier 23" geht es auch um Kindesmissbrauch ...

Fitzek: Für mich ist ein Thema ein Thema, wenn es mich persönlich bewegt. Ich bin Familienvater. In "Passagier 23" habe ich meine Ängste, die ich auch in Bezug auf meine Kinder habe, verarbeitet. Ich probiere, ein Problem zu fassen, indem ich es aufschreibe. Es heißt, dass mindestens zehn Prozent der sexuellen Missbräuche von Frauen ausgehen und 50 Prozent aller Misshandlungen. Solche Zahlen schockieren mich, bringen mich zum Nachdenken und dann an den Schreibtisch. Da ist mein Unterbewusstsein Koautor.

prisma: Sie haben drei kleine Kinder. Was antworten Sie, wenn diese Sie fragen, worüber Sie gerade schreiben?

Fitzek: Ich habe sie ganz langsam daran herangeführt. Papa denkt sich Geschichten aus, habe ich ihnen erzählt. Dann wollten sie, dass ich ihnen mal etwas vorlese. Das ging natürlich nicht. Meine Söhne haben einmal Werbung für mein Buch "Der Augensammler" gesehen. Als sie in der Schule "Wer bin ich?" gespielt haben, hat mein Sohn Felix so getan, als würde er sein Auge aus der Höhle nehmen, und mein Sohn David meinte sofort: "Der Augensammler!" Da hat mich die Erzieherin zur Seite genommen und gefragt, ob ich meine Bücher nicht besser verstecken könnte!

prisma: In "Passagier 23" fragt sich eine Figur, wer die größere Macke hat: der Autor oder derjenige, der das liest.

Fitzek: Keiner von beiden! Eine Psychologin hat mal auf einer Lesung von mir gesagt: Wer sich in eine Achterbahn setzt, möchte ja auch nicht verunglücken. Der möchte eine Nahtoderfahrung machen, die Endorphine freisetzt. Wer sich mit dem Tod auseinandersetzt, setzt sich mit dem Leben auseinander. Der Leser will, dass das Gute zumindest zum Teil am Ende siegt. Sorgen muss man sich eher um Menschen machen, die solche Geschichten weder lesen noch schreiben, denn das ist ein Ventil, eine Funktion von derartiger Literatur. Manche Leute müssen sich dazu realer Gefahr aussetzen und zum Beispiel Bungeejumping machen. Die Mehrheit sucht den Thrill in einem kontrollierten Ambiente. Wir reden über den Tod, verdrängen ihn aber. Weil wir der Überzeugung sind, zumindest jetzt unsterblich zu sein. Und diesen Verdrängungsmuskel können wir trainieren, indem wir uns hin und wieder einer Gefahr stellen. So paradox funktioniert der Mensch.

prisma: Sie schreiben Ihre Bücher oft aus Sicht der Opfer, nicht aus dem Blickwinkel des Täters.

Fitzek: Stimmt. Ich glaube, dass sich deswegen viele Leser mit meinen Büchern identifizieren können. Die Mehrheit der Menschen sind ja keine Täter. Ich denke, dass die meisten Menschen gut sind. Aber wenn 99 Prozent gutherzig sind, dann hätten wir selbst bei einer Stadt wie Berlin 40.000 Menschen, die eben nicht gut sind. Das ist genug für viele Geschichten und für reales Leid.

prisma: Aber ist die Täterperspektive nicht die interessantere?

Fitzek: Nein. Alle Serienkillerautoren arbeiten sich an Hannibal Lector ab, weil der einen Standard gesetzt hat. Mich interessiert, was die Gewalt mit mir als Otto Normalverbraucher macht. Meist konfrontiere ich in meinen Büchern Menschen mit Gewalt, die normalerweise nicht damit konfrontiert werden. Gewalt reißt uns die Maske vom Gesicht. Wir können über Zivilcourage debattieren, aber wenn wir dann Zeuge einer Gewalttat werden, dann entscheidet es sich: Wie reagieren wir im Angesicht dieser Gewalt? Sie legt unser wahres Gesicht frei.

prisma: Wie würden Sie in einer solchen Situation reagieren?

Fitzek: Ich glaube, ich bin ein Angsthase. Ich bin heilfroh, dass ich noch nie in einer solchen Situation war. Manchmal frage ich mich, wie ich reagieren würde, wenn ich wüsste, dass ich eigentlich völlig unterlegen bin und das Leben eines anderen von mir abhängt. Ich bewundere Menschen wie die Mitglieder der Weißen Rose, die aufbegehrt haben, obwohl ihr Leben in Gefahr war. Ich als sicherheitsbedürftiger Familienmensch: Hätte ich den Mut dazu? Ich bin sehr froh, dass ich nicht vor solche Entscheidungen gestellt werde.


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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