Die ESC-Stimme im Interview

Peter Urban: "Lenas 'Satellite' lag drei Jahre in einer Schublade"

von Eric Leimann

71 Jahre ist Peter Urban mittlerweile alt, doch den Eurovision Song Contest lässt er sich nicht nehmen. Im Interview spricht er über die Raab-Jahre, Demokratie beim ESC und den deutschen "Ohrwurm".

Seit 1997 kommentiert NDR-Musikexperte Peter Urban den Eurovision Song Contest. Nur einmal, im Jahr 2009, fehlte er in Moskau, weil er sich einer Operation unterziehen musste. Der mittlerweile 71-Jährige, er besitzt eine der größten Plattensammlungen Hamburgs, kennt sich wie kaum ein zweiter Deutscher mit der Chemie des Wettbewerbs aus. Welches Land, welcher Song hat 2019 Chancen auf den Sieg? Was hat es mit den wechselnden Auswahlmodalitäten des deutschen Vorentscheids auf sich? Und bringt das Castingduo Sisters, welches Deutschland beim ESC-Finale in Tel Aviv (Samstag, 18.05., 21 Uhr, ARD) vertritt, das Potenzial zum Überraschungserfolg mit?

prisma: Herr Urban, Sie sind 71 Jahre alt und offiziell im Ruhestand. Gibt es eine Absprache oder gar einen Vertrag, wie lange Sie den ESC noch kommentieren?

Peter Urban: Es hat nie einen Vertrag gegeben. Bis 2013 war ich beim NDR fest angestellt. Da war der ESC Teil meines Jobs als Hörfunk-Redakteur. Seit 2009 ist Thomas Schreiber (ARD-Unterhaltungskoordinator, d. Red.) für das Thema verantwortlich. Er sagte mir, so lange ich das machen will, könne ich das machen. Ich fühle mich nicht unfit oder dümmer als vor zehn oder 20 Jahren. Insofern kommentiere ich gern noch ein wenig weiter.

prisma: Muss man als Kommentator stets solidarisch mit dem deutschen ESC-Beitrag bleiben? Egal, wie gut oder schlecht man ein Lied findet?

Urban: Ich bin nicht Richter oder Jury, sondern Kommentator. Ich beschreibe Dinge. Und wenn ich etwas seltsam finde, dann kann ich das auch sagen. Trotzdem besteht zum deutschen Beitrag eine logische Loyalität. Es ist das Lied, das vom deutschen Publikum und den zuständigen Jurys gewählt wurde. Davor sollte man schon Respekt haben.

prisma: Weil man demokratisch die beste oder für den Erfolg im Wettbewerb vielversprechendste Kunst gewählt hat?

Urban: Ja, man kann das so ausdrücken. Das deutsche Lied wird seit 2018 durch eine Fachjury von 20 Leuten, eine hundertköpfige ESC-Fanjury und durch Tele-Voting ermittelt. Es ist schon eine Art demokratische Legitimation. Allerdings muss man die Kirche auch im Dorf lassen. Wir reden von Unterhaltungsmusik – und nicht von der Wahl zum Europaparlament.

prisma: Erschafft Demokratie gute Popmusik?

Urban: Das ist eine berechtigte Frage. Weil man sie nicht klar bejahen kann, wurde das Auswahlsystem immer wieder verändert. In früheren Zeiten verließ man sich lange auch auf die Vorschläge der Plattenindustrie. Das war von der Jahrtausendwende bis ins Jahr 2011 oder 2012 der Fall. Die Jahre, in denen die Auswahl gemeinsam mit Stefan Raab stattfand, will ich jetzt mal ausklammern. Als man merkte, die Plattenfirmen schicken uns immer öfter B-Ware, weil sie dachten: Aha, da kann man noch mal einen 1a-Fernsehauftritt für einen Künstler fix machen, der es sonst schwer hätte – da musste man reagieren. Ich finde das aktuelle System vernünftiger und effektiver.

prisma: Trauern Sie den Raab-Jahren hinterher?

Urban: Nein, aber sie waren gut in der Song- und Künstlerauswahl. Schauen Sie sich Max Mutzke an. Er ist ein großartiger Sänger, der heute als eines der Schwergewichte in Sachen Jazz und Soul aus Deutschland gilt. Über Lena muss man nicht viel sagen. Dies sind Künstler, die hat Stefan Raab mit seinem System mitgefunden – aber er war nicht allein. Übrigens waren auch nach seinem persönlichen Abschied seine Produktionsfirmen Brainpool und Raab TV in manchen mageren Jahren noch an der Auswahl beteiligt. Aber vergessen wir nicht großartige deutsche Vertreter wie Texas Lightning oder Roger Cicero, und wenn Andreas Kümmert 2015 nach seinem überlegenen Sieg beim Vorentscheid nicht zurückgezogen hätte, wäre in Wien sicher kein letzter, sondern ein Spitzenplatz herausgekommen.

prisma: Was ist wichtiger – das Lied oder die Sänger?

Urban: Es ist die Einheit aus beidem, die verfängt. Eine Zeit lang hat man bei der deutschen Vorauswahl versucht, bereits fixe Lieder von verschiedenen Nachwuchskünstlern singen zu lassen. Man wollte schauen: Wer macht das am besten? Dies hat nur bei Lena funktioniert, bei ihr war der Song fast egal. Jetzt sucht man Künstler aus, aber mit diesen Künstlern werden Songs von professionellen Liedschreibern kreiert, die zu diesen Künstlern passen. Oder die Künstler schreiben – wie Michael Schulte im Vorjahr – ihren Song selbst mit.

prisma: Das diesjährige deutsche Lied "Sister" erntete Spott, weil der Song ursprünglich von der Schweiz ausgewählt war, die das Lied aber wieder zurückgab, weil sie keine Sängerinnen dafür fanden ...

Urban: Ja, das wurde aus Unwissenheit so kommentiert. Zu Unrecht. Früher wurde ein Lied komponiert, und irgendwelche Plattenbosse bestimmten, wer es singt. Heute haben wir vorwiegend Profi-Songschreiber und Interpreten, die sich die Songs anschauen und zusammen entscheiden, mit welchen Songs sie ins Rennen um die nationale Auswahl gehen wollen. Lenas "Satellite" lag drei Jahre in einer Schublade, bis die richtige Sängerin kam. Das sehr starke Lied "Sister", das von einer kanadischen Songschreiberin stammt, die – mit Partnern – in diesem Jahr auch den britischen und den Beitrag der Schweiz geschrieben hat, wurde für den deutschen Vorentscheid angeboten, dann wurden zwei Sängerinnen dafür gesucht und gefunden, das ist ganz normales Prozedere.

prisma: Gefällt Ihnen der deutsche Song?

Urban: Ja, er ist gut. Es ist ein Ohrwurm. Und das Verfahren, dass man einen guten Song, der im Pool ist, herauspickt, weil man die passenden beiden Interpretinnen dazu findet – was der Schweiz in diesem Fall nicht gelang -, ist vollkommen legitim.

prisma: Hat der Song Chancen beim Finale in Tel Aviv?

Urban: Ich habe mir abgewöhnt, das Orakel zu spielen. Man kann nie voraussagen, wie ein Lied abschneidet. Es gab in der Geschichte des ESC mehr Überraschungssieger als Favoritentriumphe. Viele schauen sich jetzt die Videos an und bilden sich eine Meinung. Ein echtes Urteil kann man sich aber erst erlauben, wenn man die Leute live auf der Bühne gesehen hat. Nehmen Sie den Sieg vom Portugiesen Salvador Sobral vom vorletzten Jahr. Jeder sagte vorher: Das Lied ist wunderschön, es hat aber keine Chance. Am Ende gewann es. Ich glaube, dass es den klassischen Mainstream beim ESC nicht mehr gibt. Das macht die Vorhersagen generell schwierig.

prisma: Hört sich doch nach einer guten Entwicklung an. Wird die Musik beim ESC hochwertiger?

Urban: Sie wird zumindest abwechslungsreicher. Mehr und mehr Länder trauen sich wieder, auch mal was Besonderes zu machen. Die Zeit der klassischen Euro-Hymnen, unter denen ein Tanzbeat liegt, ist vorbei.

prisma: Welchen Platz werden die Deutschen 2019 belegen?

Urban: Ich sage Platz zehn bis zwölf. Aber – es kann auch besser werden. Es gibt nicht so viele Ohrwürmer im diesjährigen Angebot. Es gibt viele unterschiedliche Stile, darunter sehr zeitgenössisch produzierte Songs. Zum Beispiel die Nummern aus Zypern oder Malta, die kannst du in jedem Club oder im Radio neben US-Produktionen großer R'n'B-Stars laufen lassen. Man hört keinen Unterschied. Aber gewinnt so etwas den ESC?

prisma: Laut Wettquoten liegen Holland, Russland, Italien, Schweden und die Schweiz vorne. Kann man dieser Vorhersage trauen?

Urban: Manchmal ja, manchmal nein. Im letzten Jahr war die Israelin favorisiert und hat auch gewonnen. Zypern war ebenfalls weit oben in den Quoten, sie wurden zweite. In den Jahren zuvor gab es allerdings große Abweichungen der Ergebnisse von den Vorhersagen. Die Sieger aus Portugal und der Ukraine 2017 und 2016 waren beide absolute Außenseiter der Wettbüros. Michael Schulte war 2018 auf Platz 22 oder so gewettet, als er nach Lissabon fuhr. Er wurde Vierter. (>>> Mehr zu den Teilnehmern und Favoriten erfahren Sie hier <<<)

prisma: Wer wettet da überhaupt?

Urban: Sicher nicht die dieselben Leute, die über das Abschneiden der Songs entscheiden. Da treffen Glücksspieler eine Vorhersage darüber, welcher Song erfolgreich sein könnte. Jene Menschen in Europa, die beim Publikums-Voting des ESC teilnehmen, entscheiden jedoch darüber, was ihnen gefällt. Das ist ein Unterschied.

prisma: Sagen Sie doch mal was zu den Favoriten-Songs ...

Urban: Der Holländer Duncan Laurence kommt tatsächlich mit einem schönen Song. Allerdings begründet sich sein Ruhm auch auf einem Video, in dem er nackt schwimmt. Da muss man erst mal abwarten, wie die Live-Performance in Tel Aviv sein wird. Der russische Song ist eher durchschnittlich, aber die Russen pflegen traditionell immer einen sehr spektakulären Live-Auftritt. Den schwedischen Beitrag halte ich für eine solide Mainstream-R&B-Nummer, vielleicht zu wenig spektakulär. Für die Schweiz tritt Luca Hänni an, der 2012 die Show DSDS gewonnen hat. Er hat sicher Chancen beim jüngeren, vor allem weiblichen Publikum. Der Italiener, schätze ich, wird mit seinem Lied über seinen ägyptischen Vater tatsächlich recht weit, aber nicht ganz oben landen. Da wird die italienische Sprache eine Barriere darstellen.

prisma: Welche Lieder gefallen Ihnen persönlich am besten?

Urban: Die Beiträge aus Zypern, Tschechien und Slowenien. Die Tschechen kommen mit einer Nummer, die auch aus den 70ern oder 80ern stammen könnte. Total lässig und cool. Die Slowenen treten mit einem Lounge-Song auf Slowenisch an, und das funktioniert! Ich weiß nur, dass mir diese drei Songs vorab gut gefallen, vielleicht sind es in Tel Aviv aber ganz andere (lacht).


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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