Gus Van Sant, ein Schüler des legendären B-Picture-Königs Roger Corman, gehört wie Jim Jarmusch, Spike Lee, Jon Jost und Charles Burnett zur Generation des neuen US-Independent-Kinos. Mit seinen Erfahrungen als Werbefilmer und der Auseinandersetzung mit den Schattenseiten der amerikanischen Gesellschaft erregt er 1985 mit seinem Debütspielfilm "Mala Noche" international Aufmerksamkeit.
Der Film ist eine erschütternde Sozialstudie über ein Einwandererviertel in Portland, Oregon. Van Sant stellt zwei homosexuelle mexikanische Teenager in den Mittelpunkt, die ziellos und ohne Arbeit herumirren. Einer von ihnen wird der Geliebte eines Amerikaners. Das Drama gewinnt auf Anhieb den Los Angeles Critics Award für den besten Independent-Film des Jahres. Poesievoll harte Gesellschaftskritik bietet auch vier Jahre später sein zweiter Film "Drugstore Cowboy" (1989), in dem die Hauptfigur des Räubers und Junkies Bob Hughes schon von einem bekannteren Schauspieler dargestellt wird, der es inzwischen zu Starruhm gebracht hat: Matt Dillon, der in dem Remake von "Ein Kuss vor dem Tode" (1956) die Robert-Wagner-Rolle spielt.
1991 schließlich dreht Gus Van Sant "My Private Idaho", den Kultfilm des jungen amerikanischen Kinos. Erzählt wird von den Strichjungen Mike Waters alias River Phoenix und Scott Favor alias Keanu Reeves, die aus unterschiedlichen Gründen ihrer Vergangenheit entrinnen wollen und eine ungewöhnliche Zukunft anvisieren. Der Film entspricht so gar nicht den Vorstellungen der Majors, zumal Van Sant zu allem Überfluss auch noch deutliche Parallelen zu Shakespeares "Heinrich IV." einbringt.
Mike, der Wanderer zwischen den Welten, der Einzelgänger, Clochard und ewige Verlierer bleibt auf der Wegesstrecke zurück. Scott ist Shakespeares Prinz Henry, Bob, der Drogendealer, der an gebrochenem Herzen stirbt, sein Sir Falstaff. Trotz des spröden kargen Erzählstils ist "My Private Idaho" ein poetischer Film, der Begriffe wie Augenblick und Zeit, Endlosigkeit und Parallelität auf den Punkt bringt: die pfeilgerade Landstrasse am Anfang und Ende des Films, die Regungslosigkeit des in Schlafsucht verfallenden Mike - das sind Metaphern für Bewegung und Stillstand der Zeit. Seitdem hat Gus Van Sant mit dem Nicole Kidman-Vehikel "To Die For" (1995) und dem Berlinale-Beitrag und dem zweifach Oscar-gekrönten "Good Will Hunting" (1997) selbst im kommerziellen Kino Fuß gefasst, ist sich aber stilistisch treu geblieben.
Als Kind wechselt der junge Gus mit seiner Familie oft den Wohnort. An der Rhode Island School of Design schließt er mit dem Bachelor of Arts ab. 1975 geht Van Sant als Regieassistent von Ken Shapiro nach Hollywood. Seinen unabhängig produzierten Debütfilm "Alice in Hollywood" schneidet er später um zum Kurzfilm. Der erreicht dann einiges Aufsehen. Drei Kurzfilme, die auf internationalen Filmfestivals gezeigt und ausgezeichnet wurden, sind Farcen, die auf Van Sants literarischem Vorbild William S. Burroughs' Kurzgeschichten basieren: "The Discipline of D. E.", "Five Ways to Kill Yourself" (1986) und "Thanksgiving Prayer.
Obwohl Gus Van Sant heute Spielfilm-Regisseur ist, hat er sich - außer den Themen seiner Spielfilme - etwas Dokumentarisches bewahrt: Seit 1984 dreht er jedes Jahr einen autobiographischen Jahresrückblick als filmisches Tagebuch. Quasi als Hobby malt er in seiner Freizeit, spielt Guitarre und schreibt Texte und Musik für seine eigene Rock-Band.
Weitere Filme von Gus Van Sant: "Even Cowgirls Get the Blues" (1993) mit Uma Thurman und Lorraine Bracco, das überflüssige Remake des Hitchcock-Psychos "Psycho" (1998) mit Viggo Mortensen und Julianne Moore, "Forrester - Gefunden!" (2000) mit Sean Connery und F. Murray Abraham, "Last Days" (2005), "Milk" (2008), "Restless" (2010) sowie "Promised Land" (2013). Außerdem übernahm er eine Gastrolle in Kevin Smith' "Jay & Silent Bob schlagen zurück" (2001).