BBC-Serie bei Netflix

"Wanderlust": Masturbieren, nicht genieren!

von Markus Schu

"Wanderlust" präsentiert kaputte Charaktere auf der Suche nach romantischer und sexueller Erfüllung. Es sind klassische Themen in einem ansprechenden Serien-Gewand.

"Ich glaube nicht, dass du noch mit mir schlafen willst, Joy." Es sind harte Worte, die Alan (Steven Mackintosh, "Underworld: Evolution") seiner Frau (Toni Collette, "Hereditary - Das Vermächtnis") an den Kopf wirft, als beide feststellen, dass ihr Liebesleben vollkommen brach liegt. Aufgeben wollen sich die Paartherapeutin und der Lehrer aber noch lange nicht. Noch nicht mal, als Alan bekifft mit seiner Kollegin Clare (Zawe Ashton) vögelt und Joy ihrer Rehasport-Bekanntschaft Marvin (William Ash) einen runterholt. Denn tief im Inneren liebt sich das Ehepaar noch. Nur das mit der sexuellen Begierde ist eben so eine Sache. Vielleicht hilft es ja, wenn ihre Beziehung in Zukunft rein platonischer Art ist? Außerdem: Wer braucht schon Monogamie? Nein, "Wanderlust" handelt nicht von Ausflügen ins Gebirge. In der sechsteiligen BBC-Dramedy geht es um Liebe, Lust und Leidenschaft. Um unausgesprochenes Verlangen, sexuelle Frustration und Misskommunikation. Netflix hat sich die Ausstrahlungsrechte außerhalb Großbritanniens gesichert und stellt die erste Staffel des Formats ab sofort zur Verfügung.

Die "Scham vor unseren Bedürfnissen" macht Joy als großes Problem der britischen Gesellschaft aus. Übertragbar ist diese Aussage sicherlich auf weite Teile des Globus. "Wanderlust" ist jedoch keine unangenehme und bedrückende TV-Psychotherapie. Vielmehr erwartet den Zuschauer ein tragikomisches Format, das von zwischenmenschlicher Unbeholfenheit erzählt.

Es gibt Momente, bei denen man vor lauter Fremdscham am liebsten im Boden versinken möchte. Zum Beispiel, als Joy von ihrem Sohn Tom (Joe Hurst) beim Masturbieren erwischt wird. Oder auch, als Neil (Jeremy Swift) einen Frauenkleider-Katalog als Wichsvorlage im Lehrerzimmer zweckentfremdet. "Ich verstehe nicht, wieso er nicht die Behindertentoilette benutzt, wie wir anderen auch", entrüstet sich Kollegin Clare.

Szenen wie diese treffen sicherlich nicht jedermanns Humorverständnis, doch immerhin werden die Figuren nicht für plumpe Sex-Witzchen geopfert. Viel eher wird hier messerscharf der gesellschaftliche Umgang mit dem Tabuthema Sexualität analysiert. "Wanderlust" basiert auf einer Idee von Nick Payne, der auch die Drehbücher zu allen sechs Folgen verfasst hat. Der Mittdreißiger, der sich als Bühnen-Dramatiker einen Namen gemacht hat, seziert die Gefühlswelt seiner Figuren und lässt keinen Zweifel daran, dass hier niemand auch nur einen blassen Schimmer davon hat, wie man die eigenen Wünsche, Gefühle und Bedürfnisse artikuliert.

Bis Paynes Figuren lernen, zu sich selbst zu stehen, ist es noch ein weiter Weg. Denn Liebe und sexuelles Verlangen müssen ja nicht zwingend deckungsgleich sein. Und manchmal liegt das Glück an unerwarteten Orten. Das ist natürlich keine radikal neue Erkenntnis. Und dennoch: "Wanderlust" ist ziemlich unterhaltsam und in Teilen durchaus innovativ erzählt. Optisch erreicht die Serie Kinoniveau: insbesondere die famose Bildgestaltung und der gelungene Musikeinsatz verleihen dem Sechsteiler eine ansprechende individuelle Note. Mit symbolischen Einstellungen, tollem Schnitt und musikalischer Off-Kommentierung gelingen viele starke Momente, die neue Perspektiven auf das Erzählte eröffnen oder die Themen nochmals verdichten.

"Wanderlust" packt sein Publikum nicht direkt von Beginn an, sondern lässt sich Zeit damit, den Zuschauer in seinen Bann zu ziehen und ihn für sich zu begeistern. Analog zu den Figuren, von denen die Serie erzählt: Denn auch die Helden begreifen nicht sofort, wohin sie ihre Reise führt.


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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