Wer erinnert sich nicht an das kleine Scriptgirl aus François Truffauts "Die amerikanische Nacht" - das war Nathalie Baye 1972. Truffaut selbst sagt: "Die Unzahl von Charakteren gab mir die willkommene Gelegenheit, so interessanten Darstellern wie Jean-François Stévenin oder der jungen Nathalie Baye, deren erster Film dies war, zum Durchbruch zu verhelfen, auch Jacqueline Bisset übrigens."
Nathalie Baye brachte später das Kunststück fertig, dreimal in Folge den höchsten französischen Filmpreis zu gewinnen, den César: 1981 für die beste Nebenrolle in "Rette wer kann (das Leben)" (1979) von Jean-Luc Godard, 1982 für die beste Nebenrolle in "Eine merkwürdige Geschichte" (1981) von Pierre Granier-Deferre und 1983 für die beste Hauptrolle in "La Balance - Der Verrat" (1982) von Bob Swaim. Doch der Weg dahin war keineswegs geradlinig. Nathalie Baye kam erst nach kleinen Umwegen zum Film. In ihrer Jugend versuchte sie es zunächst mit klassischem Ballett. Schon in sehr frühem Alter nahm sie Tanzstunden, zuerst in Paris, dann in New York. Aber schon mit Anfang 20 wechselte sie das Fach und konzentrierte sich auf die Schauspielerei. Einer ihrer ersten Filmauftritte war eine winzige Nebenrolle in "Zwei Menschen unterwegs" (1973) von Robert Wise. Die Hauptrolle spielte Peter Fonda.
Dann kam François Truffaut und bot Nathalie Baye eine Nebenrolle in "Die amerikanische Nacht" an. Als Script-Girl Joëlle hat sie ein paar schöne Auftritte, den schönsten, als der schüchterne Bernard Menez sie in der Ungestörtheit des Flussufers fragt, ob sie Lust auf einen Quickie habe. Er ist zutiefst verstört, als sie dann mit der größtmöglichen Selbstsicherheit und Natürlichkeit sagt: "Ja, klar!" Sie war in dem Film trotz der kleinen Rolle aufgefallen, die Kritik hat sie bemerkt, doch mehr bewirkte diese Rolle damals nicht. Es war der Anfang von vielen kleinen präzisen Auftritten vor der Kamera. Dazwischen gab es auch mal Leerlauf.
Nathalie Bayes private Beziehung zu dem schwierigen Schauspieler Philippe Leotard bringt sie nicht weiter. Philippe ist kein Macho, er ist liebevoll und zärtlich, wenn er gerade nüchtern ist. Doch das ist er nicht oft. Immerhin neun Jahre lang dauert das Verhältnis, später ist Nathalie die Lebensgefährtin von Johnny Halliday. Die Tochter der beiden, Laura, kommt 1983 zur Welt. Nach "Die amerikanische Nacht", einer Reihe von TV-Auftritten und einigen Nebenrollen wie in "Die Ohrfeige" (1974) mit Isabelle Adjani und Lino Ventura bekam Nathalie Baye 1978 erneut von François Truffaut einen Karriereschub, als er sie für die Hauptrolle seines stillen Psycho-Dramas "Das grüne Zimmer" auswählte. Er sagt: "'Das grüne Zimmer' gab mir Gelegenheit, Nathalie Baye, die noch immer auf ihren wirklichen Durchbruch wartete, ein bisschen bekannter zu machen. Ich glaube, nach diesem Film ging es mit ihr wirklich aufwärts. Sie bekommt jetzt sowohl in Komödien als auch in ernsten Filmen Rollen angeboten, denn sie hat bewiesen, dass sie eine großartige Schauspielerin ist." Im Folgejahr bot sie in "Rette wer kann (das Leben)" eine erstmals césargekrönte Leistung bei der anderen Legende der nouvelle vague, Jean-Luc Godard.
Nun hagelte es gute Rollen, und seither hat Nathalie Baye mit zahlreichen bedeutenden französischen Regisseuren zusammengearbeitet. Für Bertrand Tavernier spielte sie eine gestresste Schullehrerin in "Ferien für eine Woche" (1980), für Claude Goretta machte sie den Film "Die Verweigerung" (1980), unter Bertrand Blier stand sie in "Ausgerechnet ihr Stiefvater" neben dem viel zu früh verstorbenen Patrick Dewaere vor der Kamera, und wieder für Godard erschien sie in dem skurrilem "Détective" (1984) mit Jean-Pierre Léaud und Claude Brasseur.
Mehrfach sah man Nathalie Baye neben Gérard Depardieu, so in "Die letzte Frau" (1975) oder in Martin Vignes "Die Wiederkehr des Martin Guerre" (1982), der wahren Geschichte eines Kriegsheimkehrers, der sich dreist als Ehemann einer Kriegswitwe ausgibt. Die Story wurde 1993 von Jon Amiel unter dem Titel "Sommersby" mit Richard Gere und Jodie Foster neu verfilmt. 1984 war Depardieu in "Enthüllung" von Philippe Labro erneut ihr Partner, dann zehn Jahre später wieder in "Die Maschine" von François Dupeyron. "From Time To Time" (1992) von Jeff Blyth war ein 18-minütiger Sciencefiction-Film, in dem außer Depardieu und Baye noch solche Größen wie Michel Piccoli, Jeremy Irons, Franco Nero, Jean Rochefort und Robin Williams mitspielten.
Für Piccoli, den großen französischen Schauspieler, ist sie eine der ganz besonders reizvollen Figuren des Kinos: "Nathalie ist sanft, weich, doch auch bestimmt, spitzbübisch und zugleich ein Kumpel. Dann wieder schaut sie einen mit durchdringendem Blick an, dass man unwillkürlich nachdenkt, was man eben falsch gemacht hat." Weitere bemerkenswerte Rollen hatte Nathalie Baye in "Brennender Sommer" (1987) von Robert Enrico, "Weekend für zwei" (1989), dem Regie-Debüt von Nicole Garcia, ferner in der amerikanischen Produktion "Und das Leben geht weiter" (1993) von Roger Spottiswoode. Außerdem sah man sie (als sie selbst) in dem Dokumentarfilm "François Truffaut - Geraubte Portraits" (1993) von Serge Toubiana und Michel Pascal.
Weitere Filme mit Nathalie Baye: "Faustine" (1971), "Die Qual vor dem Ende" (1974), "Mado" (1976), "les voyages de noces" (1976), "Le plein de super" (1976), "Familienfest" (1976), "Monsieur Papa" (1977), "Der Mann, der die Frauen liebte" (1977), "Meine erste Liebe" (1978), "La mémoire courte" (1979), "Je vais cracker!!!" (1980), "Ausgerechnet ihr Stiefvater" (1981), Geheimaktion Marseille" (1981), "Verheiratet mit einem Toten" (1993), "Honeymoon" (1984), "Geschichte eines Lächelns" (1984), "Rive doite, rive gauche" (1984), "Beethoven" (1985), "In aller Unschuld" (1987), "Ein Sommer an der See" (1990), "Le pinceau à lèvres" (1990), "The Man Inside - Tödliche Nachrichten" (1990), "Bittere Wahrheit" (1991), "La voix" (1992), "La Mere" (1995), "Kinder des Scheusals" (1996), "Food of love" (1997), "Si je t'aime... prends garde a toi" (1998), "Paparazzi - Fotos um jeden Preis" (1998), "Eine pornographische Beziehung", "Schöne Venus" (1999), "Die Frau des Chefs" (2000), "Ca ira mieux demain" (2000), "Barnie et ses petites contrariétés" (2000), "Absolutment fabuleux" (2001), "Catch Me If You Can", "Ein langer Weg in die Freiheit" (beide 2002), "Die Blume des Bösen", "Gefühlsverwirrungen" (beide 2003), "Eine fatale Entscheidung" (2005), "Kein Sterbenswort", "La Californie" (beide 2006), "Les bureaux de Dieu", "Passe-passe", "Marie-Octobre" (alle 2008), "Small World", "Bezaubernde Lügen" (beide 2010), "Laurence Anyways" (2012).