In der Dorfkirche zeigt Daniel (Bartosz Bielenia), was Glauben für ihn bedeutet.
"Corpus Christi" war der polnische Beitrag bei der diesjährigen Oscar-Verleihung.

Corpus Christi

KINOSTART: 03.09.2020 • Drama • PL (2019) • 116 MINUTEN
Lesermeinung
prisma-Redaktion
Originaltitel
Boze Cialo
Produktionsdatum
2019
Produktionsland
PL
Laufzeit
116 Minuten
Regie

Filmkritik

Du sollst lügen
Von Sven Hauberg

Der polnische Oscar-Beitrag "Corpus Christi" erzählt von einem Pfarrer, der gar keiner ist – und von einer Lüge, die Gutes bewirken soll. Ein großartiger Film, der bei den Oscars dennoch chancenlos war.

Was das Lügen angeht, lässt die Bibel scheinbar keinen Spielraum für Interpretationen. "Redet die Wahrheit", heißt es da etwa, und an anderer Stelle: "Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen". So einfach ist es dann aber doch nicht. Schon in der Genesis stiftet Abraham seine Frau Sarah um Schwindeln an, und in den Evangelien lügt Petrus wie gedruckt, wenn er leugnet, mit einem gewissen Jesus Christus Kontakt zu pflegen.

Was also ist so schlimm, wenn sich der frisch aus dem Gefängnis entlassene Straftäter Daniel (Bartosz Bielenia) die Soutane überwirft und verkündet: "Ich bin Priester?" Ist er dann noch immer der Saulus, als der er einst das Gefängnis betreten hatte, weil er sich anmaßt, etwas zu sein, was er nicht ist? Oder doch ein Paulus, der vom Bösen abgefallen ist und eben ein wenig schwindeln muss, um Gutes tun zu können? Der polnische Film "Corpus Christi" kreist um diese Frage, ganz elegant und höchst unterhaltsam und dabei weitaus weniger papierraschelnd, als diese theologische Fragestellung vermuten lassen würde.

Im Februar hatte "Corpus Christi" um den Oscar als bester internationaler Film konkurriert, konnte gegen den Abräumer "Parasite" aus Südkorea aber freilich nicht bestehen. Was schade ist, weil auch der polnische Beitrag alle Aufmerksamkeit verdient hätte.

Der Film beginnt in einem polnischen Gefängnis, in dem der 20-jährige Daniel aus Gründen einsitzt, die zunächst nur angedeutet werden. Klar hingegen ist schnell, dass Daniel einer ist, der Reue empfindet für das, was er getan hat. Im Knast hilft er dem Pfarrer bei der Gefängnismesse, der ihn zum Dank nach seiner Entlassung an ein soziales Projekt vermittelt. Im Osten des Landes soll Daniel in einem Sägewerk arbeiten, das Menschen wie ihm – "Abschaum", bellt ihm auf dem Weg dorthin ein Polizist ins Gesicht – eine Arbeitsstelle bietet. Eigentlich wollte Daniel Priester werden, dem Mann nacheifern, der ihn im Gefängnis auf den rechten Weg geführt hat. Doch weil er vorbestraft war, bleibt ihm dieser Traum verwehrt. In der polnischen Provinz angekommen, trifft Daniel in der Dorfkirche eine junge Frau – und dann fällt er, der verhängnisvolle Satz: "Ich bin Priester".

Was nun passiert, klingt auf dem Papier unglaubwürdig, funktioniert im Film aber hervorragend: Die junge Frau stellt den vermeintlichen Geistlichen Daniel dem Dorfpfarrer vor, und als dieser wenig später für ein paar Wochen ins Krankenhaus muss, übernimmt der falsche Priester kurzerhand die Gemeinde. Dass dieses unwahrscheinliche Szenario so überzeugend und so gar nicht konstruiert wirkt, liegt vielleicht auch daran, dass "Corpus Christi" eine wahre Begebenheit zugrunde liegt: Vor neun Jahren sorgte in Polen die Geschichte eines jungen Mannes für Schlagzeilen, der mehrere Monate als falscher Priester gearbeitet hatte.

Daniel, der unechte Geistliche im Film, trifft in seiner neuen Gemeinde auf zutiefst traumatisierte Menschen. Vor ein paar Monaten, erfährt er, kamen sechs Jugendliche aus dem Dorf bei einem Zusammenstoß zweier Autos ums Leben. Ihre Fotos hängen seitdem vor der Kirche, jeden Abend versammeln sich hier die Angehörigen zum gemeinsamen Gebet. Nur ein Bild fehlt: das des siebten Todesopfers, jenes Mannes, der in dem anderen Wagen saß. Mit seiner unkonventionellen Art kommt Daniel bei vielen Gemeindemitgliedern zunächst gut an. Als er dann aber versucht, zwischen der wie eine Ausgestoßene lebenden Witwe des vermeintlichen Todesfahrers und den Eltern der anderen Opfer zu vermitteln, stößt auch er an seine Grenzen.

Mit Bartosz Bielenia hat Regisseur Jan Komasa einen Hauptdarsteller gefunden, dem man alles abnimmt: den verurteilten Kriminellen ebenso wie den gläubigen Christen. Mal wirkt Bielenia wie ein Schwerverbrecher, der einem James-Bond-Film entsprungen scheint, dann wieder wie eine männliche Mutter Theresa.

"Corpus Christi" ist kein Film, der bekehren will. Wer als Atheist ins Kino geht, kommt nicht als Christ wieder heraus. Vielmehr will der Film Zweifel wecken: an Autoritäten und an Traditionen, an Kleingeisterei und sturem Immer-weiter-so. Also das genaue Gegenteil von dem, was die katholische Kirche in Polen so tut. Der Film hält all den christlichen Fanatikern den Spiegel vor, indem er zeigt, was gelebter Glaube bedeutet: nicht Hass und Ausgrenzung, sondern Liebe. Das macht "Corpus Christi" nicht nur zu einem meisterhaft inszenierten, hoch spannenden, sondern auch zu einem wichtigen Film.

Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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