Aus dem Rhythmus in den Rhythmus: In "Ema" tanzt eine Frau (Mariana Di Girólamo) aus der Reihe und sprengt die Konventionen.
"Ema" ist ein bildgewaltiger Film mit Tiefgang.

Ema

KINOSTART: 22.10.2020 • Drama • RCH (2019) • 107 MINUTEN
Lesermeinung
prisma-Redaktion
Originaltitel
Ema
Produktionsdatum
2019
Produktionsland
RCH
Laufzeit
107 Minuten

Filmkritik

Ein dysfunktionales Paar
Von Claudia Nitsche

Wer nach einem Film sucht, der nicht nur mit seinen Gestaltungsideen verschwenderisch umgeht, sondern auch inhaltlich provoziert, darf "Ema" von Pablo Larraín nicht auslassen.

Die Tänzerin Ema (Mariana Di Girólamo) und der zwölf Jahre ältere Choreograf Gaston (Gael García Bernal) sind verheiratet und waren bis vor Kurzem die Pflegeeltern eines achtjährigen Jungen. Als es zu einem dramatischen Ereignis kam, gab Ema das Kind wieder zur Adoption frei. Gaston ist voll der Vorwürfe ob Emas eigenmächtiger Entscheidung. Die Realität da draußen ist zudem gerne bereit zu richten und bestraft ihr Verhalten. So verliert Ema ihren Job als Tanzlehrerin an einer Schule, und die Beziehung zu ihrem Mann wird brüchig. Die drahtige junge Frau, die nie etwas anderes trägt als ihre Sporthosen, schließt Türen und stößt neue auf.

Der chilenische Regisseur Pablo Larraín ("Neruda", "Jackie: Die First Lady") hat sich für seinen neuen Film "Ema" den bekannten Schauspieler Gael García Bernal ("Babel") und die ausdrucksstarke Mariana Di Girólamo vor die Kamera holte. Der erfahrene Mexikaner und die unverbrauchte Chilenin leben jede Facette ihrer Figuren aus – und das ergibt ein Kinoerlebnis, das nicht so schnell vergessen wird. "Ema" macht seine Zuschauer Staunen, weil Radikalität und Schönheit zusammenfließen – oder, besser gesagt: weil sie zusammen fließen.

Pablo Larraín lässt nicht nur Ampeln brennen und erzeugt mit seiner Soundtrack eine unwiderstehliche Sogwirkung, er feuert auch Dialoge ab, die unwirklich im Ohr nachklingen. Seine Bildsprache und die Farben sind gewaltig. Oft sind bei Filmen mit imposanter Optik die Storys dünn oder so wild, dass sie den Boden unter den Füßen verlieren. In diesem Fall prahlt der chilenische Regisseur nicht nur, er liefert ab. Larraín begibt sich auf die Suche: Wo kommt es her, das Übel, das wir nicht eingeladen haben in unser Leben? Wer ist schuld?

Man kann nicht immer machen, was man will. Oder doch? Und wo führt das hin? Wut, Lust und das Sprengen von Rahmen sind gar keine leichten Themen für Schauspieler, denn sie müssen jeden Schritt glaubwürdig präsentieren. Anfangs darf man sich noch am bekannten Gesicht Gael García Bernals festhalten. Doch dann muss man mitfliegen mit Ema und somit auch mit Mariana Di Girólamo, die all das Brutale und Schöne ihrer Figur verkörpert und nicht einknickt vor einer Geschichte, die jede Verletzung nach außen trägt.

Details, die nicht erklärt werden, passen zur unkonventionellen Erzählweise des Films. Hier nimmt sich ein Regisseur ähnlich wie seine Hauptdarstellerin die Freiheit zu tun, was ihm seine Leidenschaft befiehlt – streitbare künstlerische Entscheidungen in der zweiten Hälfte des emotionalen Dramas inklusive. Das Kinderkarussell, auf dem Ema einmal mitfährt, bevor sie aufbricht, ist ein passendes Bild. Es mag harmlos wirken, doch es kann einen schwindlig machen.

Pablo Larraín ist ein wichtiger Mann für das chilenische Kino, er ist mutig, politisch, hat sich in seiner Chile-Trilogie mit der Militärdiktatur unter Pinochet auseinandergesetzt. Er versteht es, hochemotionales Kino zu schaffen, in bester Weise vielsagend. Der Reggaeton, der Tanz- und Musikstil der jungen Generation Chiles, durchdringt seinen neuen Film, schafft nicht nur einen explosiven Rahmen. Die Tanzszenen ermöglichen ein kurzes Unterstellen, einen Fluchtpunkt für den Zuschauer und vielleicht sogar für die Akteure. Ema, Gaston und der verlorene Sohn haben große Wucht. Und doch ist der spannendste Satz, den der Regisseur über seinen wilden Ritt macht: Die beiden wirken nur von außen wie ein dysfunktionales Paar.


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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