In ihrem Oscar-prämierten Kurzfilm "Wasp" (2005) erzählte Andrea Arnold von einer alleinerziehenden Mutter, die sich gleich zu Beginn der Geschichte auf eine Prügelei mit einer Nachbarin einlässt. "American Honey" (2016) handelte von einer 18-Jährigen, die von ihrer Mutter zurückgewiesen und vom Stiefvater belästigt wird. Und in der TV-Serie "Big Little Lies" (2019) machte Arnold auf ebenso abgründige wie einfühlsame Weise häusliche Gewalt und Mobbing zum Thema. Kaputte Familien, könnte man sagen, sind so etwas wie das Spezialgebiet der britischen Regisseurin und Autorin. Aber einfach nur Kaputtes zeigen, das ist nicht die Kunst. Auch nicht in Arnolds neuem Film "Bird".
Die Grundkonstellation erinnert stark an frühere Projekte von Andrea Arnold. Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht der Zwölfjährigen Bailey (Nykiya Adams). Das Mädchen lebt mit einem älteren Halbbruder bei seinem Vater Bug (Barry Keoghan) in einem besetzten Haus in der britischen Hafenstadt Gravesend. Bug ist ihr mehr Kumpel als Vater und hat keinen Job, aber immer wieder ziemlich verrückte Geschäftsideen. Die neueste: Mit halluzinogenem Schleim, den er aus einer exotischen Kröte gewinnt, will er reich werden. Diesmal wird es funktionieren, ganz bestimmt!
Millionen machen mit Krötenschleim? Bailey glaubt nicht recht daran, weil sie schon zu viel Scheitern gesehen hat. Und weil ihr das große Träumen, das andere Kinder in ihrem Alter noch so wunderbar beherrschen, weitestgehend abhandengekommen ist. Der Vater ein überforderter Hallodri, die Mutter am anderen Ende der Stadt in einer neuen Beziehung mit einem gewalttätigen Arsch: Das alles, dieses ganze prekäre Leben mit dem ganzen Chaos bietet Bailey nicht den Halt, den sie braucht.
Andrea Arnold, die das Drehbuch schrieb und Regie führte, zeigt in ihrem Coming-of-Age-Film viel Grau, viel Armut, viel schmerzendes Elend am sozialen Abgrund. Aber zwischendurch lässt sie den Blick immer wieder kunstvoll abschweifen. Am liebsten himmelwärts: Sie zeigt Schmetterlinge. Möwen. Krähen. Und dann taucht da plötzlich ein schräger Vogel auf, der sich schlicht "Bird" nennt (verkörpert von Franz Rogowski). "Ich bin Bird. Wie heißt du?", stellt sich der Vagabund freundlich vor. Bailey lässt ihn zunächst barsch abblitzen. Wie sie heißt, das gehe ihn gar nichts an. Aber nach und nach entwickelt sich zwischen ihr und Bird doch so etwas wie eine Freundschaft.
Andrea Arnold gilt seit inzwischen zwei Jahrzehnten als eine der talentiertesten und feinfühligsten Filmemacherinnen der Welt, und diesem Ruf wird sie auch mit ihrem eigenwillig schillernden neuen Projekt wieder gerecht. In Cannes war sie mit "Bird" bereits zum vierten Mal in ihrer Karriere für eine Goldene Palme nominiert. Neben ihrer Regiearbeit wurde aber auch die Darbietung von Hauptdarstellerin Nykiya Adams auf vielen Festivals gefeiert: Bei den London Critics' Circle Film Awards etwa gewann Adams den Preis als beste britische Nachwuchs-Schauspielerin.