Der Bauernsohn und Steinbrucharbeiter in Roland Klicks "Ludwig" (1965) war Otto Sanders erste Kinorolle. Sander spielte so verblüffend lebendig und authentisch, dass es für den Jungen von 23 keine Schwierigkeit war, an der Otto-Falckenberg-Schule in München anzukommen. Wie bei "Ludwig" wusste man auch später bei Sander nicht, ob das Gelangweilte echt oder gespielt war, ob er sich ganz schrecklich über einen lustig machte oder alles ernst nahm, ob er den Betrunkenen nur mimte oder bereits einen in der Krone hatte. Otto Sander war so wunderbar spontan, anwesend und abwesend zugleich, ironisch oder zynisch.
Im Gespann mit Freund und Kollege Bruno Ganz war er besonders gut, wie etwa in "Der Himmel über Berlin" (1986) und "In weiter Ferne, so nah!" (1993), den beiden korrespondierenden Wim-Wenders-Filmen. Sander besuchte die Schauspielschule und stand nebenbei auf der Bühne des Münchner Rationaltheaters. Das war bestes Kabarett und Otto Sander war hier voll in seinem Element, eloquent und witzig, spontan und immer von einer wunderbaren Sprachgewalt.
Dem Theater gehörte seine Liebe: Sein Debüt gab Otto 1965 an den Düsseldorfer Kammerspielen, 1967/68 ging er ans Theater nach Heidelberg, dann an die Freie Volksbühne Berlin. Ab 1970 war er bei Peter Stein an der Schaubühne am Hallerschen Ufer in Berlin, wo er spielte und inszenierte. Bundesweit kennt man ihn durch die Aufzeichnungen oder auch Kinoinszenierungen der Stücke: Kleists "Prinz Friedrich von Homburg" (1972), die "Optimistische Komödie" (1973) und "Die Bakchen" (1974).
"Im Kopf und im Theater muss eine gewisse Anarchie herrschen", fand Otto Sander. Dabei war der Schauspieler ein eher sanfter und schüchterner Mensch, der die Ordnung ganz schnell wieder errichtete, damit er nicht ins Uferlose fiel. Kindheit und Jugend waren turbulent: Als ältester Sohn eines Flottilleningenieurser in Hannover in Hannover geboren, ging er dort und in Kassel zur Schule. Wegen seiner roten Haare und der Sommersprossen litt er als Kind unter ständigen Hänseleien. Später spielte er den Clown, um dem Spott zuvor zu kommen. Nach dem Abitur ging er 1961/62 zur Marine, wollte Regisseur werden, studierte 1962-1967 Theaterwissenschaft, Germanistik, Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie in München.
1974 spielte er in Wolfgang Staudtes Siegfried-Lenz-Adaptation "Lehmanns Erzählungen" einen Kriegsheimkehrer zur Zeit der Schwarzmarktgeschäfte. Außerdem war Sander der preußisch-strenge Junker bei Eric Rohmer in "Die Marquise von O." (1975), 1979 der Musiker Meyn in Volker Schlöndorffs "Die Blechtrommel" oder der total abgedriftete Ritterkreuztträger in Wolfgang Petersens "Das Boot" (1981).
In Andrzej Wajdas "Eine Liebe in Deutschland" (1983) fungierte Sander der Sprecher. Gemeinsam mit Bruno Ganz realisierte er das Schauspielerporträt über Curt Bois "Das Gedächtnis". 1980 spielte er bei Werner Schroeter in "Palermo oder Wolfsburg", 1981 in Carl Schenkels "Kalt wie Eis", schließlich verkörperte er die Titelrolle in Hartmut Schmiege und Christian Rateukes "Der Mann im Pyjama" (1981) - dafür erhielt er ein Jahr später den Ernst-Lubitsch-Preis. Margarethe von Trotta besetzte ihn in "Rosa Luxemburg" (1985) und 1994 in "Das Versprechen" und Peter Patzak in dem Richard-Wagner-Film "Wahnfried", auch bekannt als "Richard und Cosima" (1986). In Frank Beyers "Nikolaikirche" war er ebenso dabei wie in Matti Geschonnecks "Matulla & Busch" (beide 1995) und dem witzigen "Z.B. Otto Spalt" (1987). Außerdem arbeitete Otto Sander häufig fürs Fernsehen, war Moderator, Synchron- und Radio-Sprecher und trat bei Lesungen auf. Er war auch der Ziehvater von Ben Becker und Meret Becker, mit denen er auch häufig gemeinsam vor der Kamera stand.
Weitere Filme mit Otto Sander: "Einer von uns beiden" (1973), "Ermittlungen gegen unbekannt" (1974), "Meine Sorgen Möcht' ich haben" (1975), "Sommergäste" (1975), "Lehmanns Erzählungen" (1975), "Vier gegen die Bank" (1976), "Trilogie des Wiedersehens" (1979), "Tatort - Mitternacht oder kurz danach" (1979), "Wer spinnt denn da, Herr Doktor?" (1981), "Eine Liebe in Deutschland" (1983, Erzähler), "Miko - Aus der Gosse zu den Sternen" (1986), "Sentimental Journey" (1987), "Der Bruch" (1988), "Wie du mir..." (1989), "Werner - Beinhart!" (1990, Erzähler), "Zeit der Rache" (1990), "Der Olympische Sommer" (1991, Sprecher), "Amaurose" (1991), "Das untergehende Vaterland" (1992), "Inge, April und Mai" (1992), "Bauernschach" (1993), "Der Kinoerzähler" (1993), "Das Traumschiff" (1994), "Movie Days" (1994), "Tri sestry" (1994), "Hölderlin Comics" (1994), "Das Versprechen" (1994), "Dieu sait quoi - Gott weiß was" (1994), "Polizeiruf 110 - Totes Gleis" (1994), "Lumière et compagnie" (1995), "Das Loch" (1995, Kurzfilm), "Kondom des Grauens" (1996), "Gespräch mit dem Biest" (1996), "Truck Stop" (1996), "Die Serpentintänzerin" (1996), "Abendbrot" (1996), "Liebe Lügen" (1996), "Comedian Harmonists" (1997), "Bin ich schön?" (1998), "Männer sind wie Schokolade" (1998), "Polizeiruf 110 - Das Wunder von Wustermark" (1998), "Stan Becker - Auf eigene Faust" (1998), "Untersuchung an Mädeln" (1998), "Downhill City" (1999), "Email an Gott" (1999), "Pop 2000" (1999, TV-Reihe, Sprecher), "Majestät brauchen Sonne" (1999, Sprecher), "Der Kuss des Vergessens" (2000), "Der Einstein des Sex" (2000), "Lieber Fidel" (2000, Sprecher), "Les Misérables - Gefangene des Schicksals" (2000), "Marlene" (2000), "Morgengrauen", "Sass" (beide 2001), "Tödliches Vertrauen", "Abenteuer Ruhrpott" (Sprecher), "Atlantic Affairs" (alle 2002), "Werner - Gekotzt wird später!" (2003, Sprecher), "Polizeiruf 110 - Dettmanns weite Welt", "Aus Liebe zu Deutschland - Eine Spendenaffäre" (2003, Sprecher), "Das Traumschiff - Australien", (2003), "Tatort - Die Spieler" (2005), "Das Parfum - Die Geschichte eines Mörders" (Sprecher), "Michelangelo Superstar" (Sprecher, beide 2006), "Der kleine König Macius" (Sprecher), "Das Herz ist ein dunkler Wald" (beide 2007), "Der Grüffelo" (Sprecher, 2009), "Die Schuld der Erben" (2011), "Bis zum Horizont, dann links!" (2012).