Schonungslos offen: "Rocketman" setzt das Leben von Elton John als knallbuntes Musical in Szene. Schmutzige Details spart der Film dennoch nicht aus.
Es ist Montagnacht im Troubadour, dem legendären Club in West Hollywood, und Elton John hebt ab. Dutzende sind gekommen, um die neue Sensation aus England zu bestaunen, und da sitzt er nun am Klavier, in Latzhose und mit dicker Brille, und spielt "Crocodile Rock". Zögerlich zunächst, dann immer intensiver. Bis er schließlich zu schweben beginnt und wie ein Heißluftballon in der Luft hängt, nur mit den Händen noch am Klavier. "Rocketman", Dexter Fletchers Film über Elton John, hat viele solche Szenen, in denen sich Realität und Traum vermischen und die aufgeladen sind mit Symbolik. Denn freilich hob damals, im August 1970, nicht nur Elton John ab, sondern auch seine Karriere.
"Rocketman" beginnt einige Jahre später. Elton John (Taron Egerton), den aufgedunsenen Körper in ein Superheldenkostüm gequetscht und auf der Nase eine Herzchenbrille, stolpert in eine Sitzung der anonymen – ja, was eigentlich? Alkoholiker ist er, außerdem süchtig nach Sex, Medikamenten, Kokain und so viel anderem, das wohl nur noch er selbst den Überblick hat. Diese Therapiesitzung bildet den Rahmen für "Rocketman", immer wieder kehrt der Film hierher zurück. Und diese offene Drogenbeichte gleich zu Beginn macht auch deutlich, was "Rocketman" sein will: ein schonungslos offenes Porträt eines Künstlers, das keine noch so peinliche Episode auslässt. Der Film schafft das Kunststück, sowohl märchenhaft bunt als auch knallhart realistisch zu sein. Szenen, die den Popstar Elton John feiern, wechseln sich ab mit Momenten, in denen der heute 72-Jährige besoffen über der Kloschüssel hängt und sich die Seele aus dem Leib kotzt
Dafür muss man wissen, dass Elton John selbst den Film produziert hat, unter anderem zusammen mit seinem Ehemann David Furnish. Da blickt also einer selbst zurück auf sein Leben, ohne falsche Scham. Ganz anders also, als das "Bohemian Rhapsody" getan hat, jener Film über Freddie Mercury und seine Band Queen, mit dem sich "Rocketman" aus gleich mehreren Gründen messen muss. Denn einerseits war "Bohemian Rhapsody" so überaus erfolgreich an den Kinokassen (weltweit und 900 Millionen Dollar!), dass der Film quasi im Alleingang das Genre des Musiker-Biopics wiederbelebt hat. Zum anderen führte "Rocketman"-Macher Dexter Fletcher auch bei Teilen von "Bohemian Rhapsody" Regie, nachdem Regisseur Bryan Singer gefeuert worden war.
"Bohemian Rhapsody" wurde vieles vorgeworfen, unter anderem, dass der Film historische Tatsachen verfälsche. Vor allem aber, dass er die Bisexualität seines Protagonisten nicht ausreichend zeige. Zumindest letzteren Vorwurf kann man "Rocketman" nicht machen. Wenn Elton John erstmals mit seinem Geliebten und späteren Manager John Reid (Richard Madden) im Bett landet, wendet sich die Kamera nicht beschämt ab. So viel schwulen Sex, darauf wies der "Hollywood Reporter" hin, gab es in einem Blockbuster noch nie. Gegen "Rocketman" ist "Bohemian Rhapsody" brav wie ein Kirchenchor. Man bekommt fast Mitleid mit den Zensoren in Ländern wie China, die sich hier die Finger wund schnippeln werden, um jeder vermeintlich anstößige Szene zu entfernen.
Zunächst ist "Rocketman" allerdings ein recht braves Biopic, das erzählt, wie der fünfjährige Reginald Kenneth Dwight erste Klavierstunden nimmt und sich langsam zum ernstzunehmenden Musiker mausert. Als junger Mann trifft er dann Bernie Taupin (Jamie Bell), dessen Songtexte er vertont. Elton John nennt sich Reginald nun, und wieder gibt es eine Erweckungsszene am Klavier: wenn er Taupins Text zu "Your Song" vor sich liegen hat, "It's a little bit funny, this feeling inside" vor sich hin summt und quasi aus dem Stegreif die passende Melodie in die Tasten streichelt. Oma Dwight (Gemma Jones) schlägt ergriffen die Hände übereinander. A Star is born!
50 verschiedene Brillen
"Du musst den, als der du geboren wurdest, umbringen. Damit du zu der Person werden kannst, die du sein willst" – diese Lektion erhält Elton John bei einem seiner frühen Auftritte einmal von einem amerikanischen Musiker, und er nimmt sie sich zu Herzen. In "Rocketman" wechselt Taron Egerton die Kostüme häufiger als andere die Unterwäsche. Allein 50 Brillen soll die Kostümabteilung für ihren Hauptdarsteller besorgt haben. "Rocketman" erzählt viel davon, wie sich Elton John von seinen Eltern (Bryce Dallas Howard, Steven Mackintosh) emanzipiert, vor allem von seinem Vater, der ihn nicht liebt. Und davon, wie er seine Sexualität entdeckt und schließlich akzeptiert.
Wie das Ganze ausgeht, ist hinlänglich bekannt. Für alle, die die letzten drei Jahrzehnte ohne Boulevardmedien leben mussten, erklärt es der Film zum Schluss in mehreren Texttafeln: Elton John ist heute nicht nur trocken, sondern auch geliebter Ehemann. Mission erfüllt sozusagen. Dass "Rocketman" dennoch spannend ist, liegt an der Erzählstruktur des Films, die immer wieder zwischen den Zweitebenen springt und die Handlung so gekonnt aufbricht.
Erzählt wird Elton Johns Leben auch durch die Musik. Da werden immer wieder kunterbunte Musicalnummern eingestreut, die das momentane Seelenleben des Protagonisten illustrieren sollen. Wenn Elton John also "Don't Go Breaking My Heart" singt, ist das mehr als ein Text aus der Feder von Bernie Taupin. Andere Passagen hingegen sind weniger leicht zu entschlüsseln – die Bedeutung von Songs wie "Bennie and the Jets" ("B-b-b-b-Bennie! Bennie!") dürfte sich nur ausgewiesenen Elton-John-Exegeten erschließen.
Was "Rocketman" angesichts der vielen Musicaleinlagen fast gänzlich fehlt, sind die großen Konzertszenen, die "Bohemian Rhapsody" so mitreißend gemacht haben. Im Elton-John-Film wird fast jeder Song nur angeschnitten, nach einer Minute geht es meist schon wieder weiter im Programm. Taron Egerton singt dabei stets selbst. Dass er dabei längst nicht jeden Ton trifft – geschenkt. Denn Egertons schauspielerische Leistung ist wahrlich oscarrreif. Er liebt, leidet und kokst zwei Stunden wie ein Wahnsinniger, dass es eine wahre Freude ist, ihm zuzusehen.
Am Ende bleibt dennoch ein ernüchterndes Gefühl zurück. "Rocketman" will so viel sein – Sittenporträt der 70er, Coming-Out-Drama und Biografie sowieso. Das alles unter einen (Glitzer-)hut zu bringen, gelingt dem Film nur ansatzweise. "Rocketman" ist vor allem eines: ein sehr schriller Schrei nach Liebe.
Quelle: teleschau – der Mediendienst